Täglich reiten… muss das sein?

Pferdetraining ist in den letzten Jahrzehnten unglaublich vielfältig geworden – Bodenarbeit, Zirzensik, Equikinetic, Dualaktivierung und vieles mehr steht auf dem Trainingsplan vieler Pferde. Das ist eine erfreuliche Entwicklung gegenüber dem alten Schema F, nach dem entweder nur geritten oder auf dem Pappteller longiert wurde.

Trotzdem bin ich in meiner Zeit als Pferde-Physiotherapeutin immer wieder auf PferdebesitzerInnen getroffen, die ihr Pferd täglich reiten. Oft nach dem Motto: Viel hilft viel. Das Pferd soll Muskeln aufbauen, fit bleiben, leistungsstärker werden, beim nächsten Turnier gut abschneiden etc. “Als muss ich täglich reiten”, denken sich viele. Aber warum steckt genau darin ein fataler Denkfehler? Warum hilft viel eben nicht viel? Warum sollte ein Pferd nicht täglich geritten werden?

1. Pferde sind nicht als Reittiere geboren

Auch wenn der Pferderücken so einladend aussieht, um darauf Platz zu nehmen, sind Pferde eigentlich gar nicht als Reittiere vorgesehen. Die Konstruktion ihres Körpers ist nicht ideal, um Lasten zu tragen – jedenfalls nicht „einfach so“ und ohne entsprechendes vorbereitendes Training. Zwei Gründe dafür sind das fehlende Schlüsselbein und die Ausrichtung der Dornfortsätze an der Wirbelsäule.

Pferde besitzen kein Schlüsselbein, welches die Vorderbeine mit dem Rumpf verbinden würde. Der Rumpf des Pferdes ist nur durch Muskulatur und Bindegewebe zwischen den Vorderbeinen „aufgehängt“. Kommt nun eine Last auf den Rücken, muss diese Muskulatur kräftig genug sein, um nicht nur den eigenen Rumpf, sondern auch das zusätzliche Gewicht zu tragen. Ohne Training ist das nicht ohne weiteres möglich. Um regelmäßig und schadenfrei eine Last tragen zu können, muss diese Rumpftragemuskulatur entsprechend vorbereitet und trainiert werden. Ansonsten sackt der Rumpf einfach zwischen den Vorderbeinen ab, was schlimme Folgen insbesondere für die Gelenke der Vorhand haben kann (Stichwort „Trageerschöpfung“ mit all seinen Konsequenzen).

Der andere Grund, warum Pferde anatomisch eigentlich gar keine Lastenträger sind, ist die Stellung ihrer Wirbel zueinander: Die Dornfortsätze der Wirbelsäule zeigen im vorderen Bereich des Rückens (Widerrist) nach hinten, stehen um den 13./14. Brustwirbel herum (tiefste Stelle des Rückens, genau die Mitte der Sattellage) senkrecht und zeigen ab dort bis zum letzten Lendenwirbel nach vorn. Was passiert nun, wenn eine Last oben drauf gesetzt wird und dieses labile System nicht ausreichend durch Muskulatur von unten (Bauchmuskeln!) gestützt werden kann? Richtig, die Wirbelsäule biegt sich ein wenig nach unten durch, wodurch sich die Dornfortsätze, welche sich von Natur aus schon „angucken“, gefährlich nahe kommen: Drohende Gefahr der Kissing Spines.

Kissing Spines durch täglich reiten

2. Täglich reiten erhöht die Verletzungsgefahr

Allein aus den anatomischen Gegebenheiten des Pferdekörpers ist nun schon klar geworden, dass ein Pferd entsprechendes Training braucht, um überhaupt schadenfrei ein Gewicht auf seinem Rücken tolerieren zu können. Aber täglich reiten gehört definitiv nicht dazu. Training erfordert stets Regenerationszeiten: Muskelaufbau geschieht nicht unter möglichst viel Belastung, sondern in ausreichenden Erholungsphasen zwischen zeitlich klug geplanten und individuell angepassten Trainingsreizen. Wenn täglich geritten wird, kommt diese Regeneration zu kurz. Sie ist aber unerlässlich, damit sich Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke von der vorherigen Trainingseinheit erholen und langfristig stärker werden können. Erfolgen neue Trainingsreize zu früh (sprich: wird direkt am nächsten Tag wieder geritten), hatten diese anatomischen Strukturen nicht ausreichend Zeit, sich zu regenerieren. Das kann zu Verletzungen und langfristig zu Verschleißerscheinungen führen.

3. Täglich reiten häuft mentale Erschöpfung an

Abgesehen davon, dass es für den Pferdekörper nicht gesund ist, kann tägliches Reiten zu einer Routine werden, die sowohl für Pferd als auch für Reiter monoton und langweilig wird. Abwechslung und Vielfalt in der Arbeit mit dem Pferd sind wichtig, damit es motiviert bleibt und Spaß an der Arbeit behält. Wer möchte schon täglich dasselbe Programm abspulen? Außerdem bedeutet ein zu hoher Trainingsdruck Stress und mentale Belastung – nicht nur für Menschen, sondern auch für Pferde. Dies kann sich negativ auf die Pferd-Mensch-Beziehung und auf die körperliche Leistungsfähigkeit und Gesundheit auswirken. Tägliche Bewegung ist zwingend notwendig für ein Pferd – aber „tägliche Bewegung“ ist nicht dasselbe wie „tägliches Training“ bzw. „tägliches Reiten“. In erster Linie geht es darum, dem Pferderücken nicht täglich die Last zuzumuten, für die er gar nicht gebaut ist. Auf einen Reit-Tag sollte stets ein reitfreier Tag mit Longieren, Bodenarbeit, Spazieren gehen oder ähnlichem folgen. So bleiben Körper und Geist gesund, Pferd und Reiter motiviert. Und Muskeln bekommt die Chance, zu wachsen.

Fazit: Nicht täglich reiten, sondern das Training deines Pferdes klug planen ist die Devise. Wie du das Training deines Pferdes sinnvoll gestaltest, erfährst du im eBook “Trainingsplan für dein Pferd”

Trainingsplan für dein Pferd

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Kerstin-Pferde-Physio-Wissen

Über mich

Ich bin Kerstin, das Gesicht hinter Pferde Physio Wissen. Ich bin Pferde-Physiotherapeutin, Pilates- und Sitzschulungstrainerin. Mein Anliegen ist es, dir  Wissen, Tipps und physiotherapeutische Techniken an die Hand zu geben, die du an deinem Pferd selbst anwenden kannst. Gewusst wie kannst du mit einfachen Handgriffen selbst aktiv zur Gesundheitsprävention deines Pferdes beitragen. 

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